Schulsozialarbeit auf der Kippe

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Mitwirkende

Die Schulsozialarbeit in Sachsen-Anhalt steht vor einer ungewissen Zukunft. Denn Mitte 2028 läuft die Förderung vieler Stellen durch EU-Mittel aus. Eigentlich bräuchte es jetzt eine Entscheidung. Nur so lässt sich die Schulsozialarbeit langfristig finanzieren und Personal halten. Doch Land und Kommunen machen sich gegenseitig für die Misere verantwortlich. Vor welchen Herausforderungen Schulsozialarbeiter*innen stehen und was das Aus der Schulsozialarbeit für Neustadt bedeuten würde, erfahrt ihr hier.

Jenny Janko beginnt ihren Arbeitstag jeden Morgen mit einer To-Do-Liste. Doch egal, was sie plant, irgendwie kommt es immer anders. Janko ist seit zehn Jahren Schulsozialarbeiterin in Halle-Neustadt an der Grundschule Kastanienallee. Janko liebt ihren Job, er ist vielfältig, bietet viele Freiheiten und flexible Arbeitszeiten. Gerne würde sie sich häufiger Aktivitäten im Schulgarten widmen oder Kunstprojekte veranstalten, doch dafür fehlt die Zeit.

Das Gros ihrer Aufgaben besteht aus akuten Kriseninterventionen, das heißt, dass Schüler*innen den Unterricht verweigern oder soweit stören, dass er unmöglich wird. Dann heißt es mit den Kindern ins Gespräch kommen und zuhören, um zu schauen, wo der Schuh drückt. Häufig sind das Alltagsprobleme, wie der Streit zwischen Freund*innen. Dinge, die für Erwachsene keinen Stellenwert haben, aber in der Lebenswelt der Kinder viel Raum einnehmen. Bezugspersonen zu haben, denen sich die Kinder anvertrauen können, ist wichtig. Schulsozialarbeiter*innen sind der soziale Kitt, der die Schule zusammenhält.  Janko kommt dabei zugute, dass sie alle Kinder beim Namen nennen kann und häufig auch die der Eltern und Geschwister. Schulsozialarbeit ist Beziehungsarbeit – und die braucht Zeit. 

„Sprache ist eine unserer größten Hürden”

Jenny Janko

Läuft das Gespräch gut, kann das Kind wieder in die Klasse, wenn nicht, müssen die Eltern gerufen werden. Wobei Janko sich auch denen annehmen muss. Etwa, wenn sie – häufig zwischen Tür und Angel – mit Janko unangekündigt Anträge fürs Jobcenter besprechen wollen. Fast alle Kinder an der Schule leben in Haushalten, die von Sozialleistungen abhängig sind. Wobei dies nicht die größte Herausforderung darstellt.


Jan Metzner und Jenny Janko sind als Schulsozialarbeiter*innen in Halle-Neustadt tätig und berichten uns von ihren Herausforderungen im Schulalltag

„Sprache ist eine unserer größten Hürden”, sagt Janko. Als sie vor zehn Jahren ihren Job anfing, lag der Migrationsanteil an der Schule bei 30 Prozent, mittlerweile liegt er bei 86 Prozent. Kinder aus 29 Nationen lernen hier gemeinsam. Von den 358 Kindern an der Schule haben knapp ein Drittel einen Förderbedarf, das heißt, sie sind verhaltensauffällig, leiden an Autismus oder ADHS. Viele haben zudem eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Schwierigkeiten, einfachste Matheaufgaben zu lösen. Da bedarf es besonderer Förderung und Betreuung. Auch Kinder, die an den Förderschulen gut unterkommen könnten, werden an der Grundschule Kastanienallee inklusiv beschult. Auch weil es den Förderschulen an den entsprechenden Kapazitäten fehlt.

Hinzu kommt, dass viele Schüler*innen undiagnostiziert sind, weil die Kinder bereits ein Jahr in Deutschland die Schule besucht haben müssen, ehe eine Diagnose genehmigt wird. Ob die Kinder bei Einschulung überhaupt die Schuleignung mitbringen, ist unerheblich. Auch deshalb sollte Spracherwerb in der ersten Klasse absolute Priorität haben. „Doch wir brauchen auch Unterricht, der darauf ausgerichtet ist, Zweisprachigkeit gezielt zu fördern”, meint Janko.

Des Weiteren stammen die Kinder häufig aus zerrütteten Familien. Viele Geschwister, wenig Platz, kein eigenes Zimmer oder ein ruhiger Arbeitsort, um die Hausaufgaben zu erledigen – das bedeutet für die Kinder kontinuierlich Stress. Hinzu kommen die Traumata, die viele Schüler*innen erlebt haben: Flucht, Vertreibung, Gewalt oder der Verlust von Angehörigen. Hierzu brauche es mehr schulpsychologische Betreuung und eine bessere Anbindung an kinderpsychologische Praxen, um die Erfahrungen aufzuarbeiten, findet Janko.

Jede*r Zweite denkt über Jobwechsel nach

Janko schätzt die Abwechslung in ihrem Job, kein Tag ist wie der andere. Doch ob sie die Arbeit noch ewig weiterführen wird, da ist Janko unsicher. „Mich kann nach über 10 Jahren nichts mehr schockieren.” Und das selbst dann nicht, wenn Mütter in Frauenschutzhäusern unterkommen oder Schüler*innen von der Polizei in Obhut genommen werden. Einzelfälle, die nicht tagtäglich sind, aber Janko auch nach Dienstschluss beschäftigen. Was Janko hilft, ist der Zusammenhalt im Kollegium und die Unterstützung der Familie.

Bundesweit denkt fast jede*r zweite Schulsozialarbeiter*in darüber nach, den Job zu wechseln, das ergab eine Studie der HTW Saar, über deren vorläufige Ergebnisse zuerst die Rechercheplattform Correctiv berichtete. Die Gründe für den möglichen Berufswechsel: emotionaler Stress, fehlende Wertschätzung und Einzelkämpfertum. 

Wobei sich Janko glücklich schätzen kann, einen weiteren Schulsozialarbeiter im Kollegium zu haben. In Halle-Neustadt verfügt nahezu jede Schule über zwei Vollzeitstellen. Eigentlich sollte auch jede Schule in Halle mindestens über eine*n Schulsozialarbeiter*in verfügen, doch dass dies nicht der Fall ist, liegt am Verteilungsschlüssel der Stadt. Dazu werden schulische Faktoren herangezogen, wie etwa der Anteil der Schüler*innen mit Förderbedarf oder fehlender Versetzung. Zudem spielt das Umfeld eine Rolle: wie der Anteil junger Menschen, alleinerziehender Eltern oder Menschen mit Migrationsgeschichte in einem Stadtteil. Ebenso werden laufende Maßnahmen der Jugendhilfe, etwa Erziehungshilfen durch das Jugendamt berücksichtigt, und auch der Bezug von Bürgergeld in einem Stadtteil wird in der Berechnung herangezogen. Dabei stellt sich heraus: die Bedarfe in Halle-Neustadt sind am höchsten.

Viele Schüler*innen von der Grundschule an der Kastanienallee wechseln zur fünften Klasse auf die benachbarte Gemeinschaftsschule, mit der sie sich einen gemeinsamen Schulhof teilt. Jankos Kollege Jan Metzner ist hier als Schulsozialarbeiter tätig.

Kommen die Schüler*innen in die Pubertät, lassen sie sich nicht mehr alles gefallen. Sie werden selbstbewusster, manche pfeifen auf Autoritäten, schwänzen den Unterricht. Einige Schüler*innen sind hingegen unterfordert und stören dann den Unterricht, auch weil sie aus bildungsfernen Elternhäusern stammen, in denen der Schulerfolg keinen hohen Stellenwert einnimmt. „Kämen diese Schüler aus dem Bildungsbürgertum, dann wären sie am Gymnasium. Das heißt, sie müssen eigentlich nicht wirklich was machen, um bei uns in der Schule zu bleiben und können da halt Scheiße bauen”, sagt Metzner. Da hilft nur eine klare und verständliche Ansprache und ein offener und wertschätzender Umgang. Empfehlungen, die Metzner auch den Lehrkräften nahelegt. „Bei uns sind die Schüler sehr pragmatisch. Wenn die mitbekommen, dass sie den Unterrichtsstoff nie wieder brauchen, dann lassen die das links liegen. Was sie motiviert, ist, dass sie dem Lehrer vertrauen, dass das jetzt wichtig ist. Die Schüler reagieren extrem darauf, dass man sie aufnehmen möchte, dass man sie in der Schule, in der Klasse haben möchte, dass man sich freut, sie als Schüler zu haben.” 

Finanzierung läuft aus

Die Studie der HTW Saar ergab auch: Bundesweit ist Sachsen-Anhalt Schlusslicht bei der Entfristung von Arbeitsverträgen. Denn der Großteil der Finanzierung der Schulsozialarbeit in Sachsen-Anhalt ist projektgebunden und stammt aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF). 50 Stellen werden dadurch in Halle (Saale) finanziert, unter anderem die von Janko und Metzner. Allerdings steht die Finanzierung der Schulsozialarbeit durch ESF-Gelder auf der Kippe. Die aktuelle Förderperiode läuft zum 31. Juli 2028 aus. Wie es danach weitergeht, ist ungewiss. Gleichwohl reichen jetzt schon nicht die Mittel aus, um den Stellenbedarf zu decken. In Halle (Saale) finanziert die Stadt zusätzlich zwölf Stellen anteilig zu 40 Prozent. Knapp 13 Stellen werden ausschließlich durch städtische Mittel gestemmt. Alle Schulsozialarbeiter*innen in der Saalestadt sind bei freien Trägern beschäftigt. Janko verfügt zwar über einen unbefristeten Arbeitsvertrag, aber ob der Träger für Personal bezahlt, für das es keine Stellen gibt, gilt als ungewiss – betriebsbedingte Kündigungen drohen und das, obwohl vielerorts Schulsozialarbeiter*innen händeringend gesucht werden und viele Stellen unbesetzt bleiben.

Daher fordern Berufsverbände, Gewerkschaften und Kommunen das Land schon seit Jahren auf, für Planungssicherheit der Schulsozialarbeiter*innen und ihrer Träger zu sorgen – auch um der Fluktuation der Fachkräfte entgegenzuwirken. So wie zuletzt Ende Oktober im Stadtrat von Halle (Saale): In einer parteiübergreifenden Resolution forderten die Stadträte das Land auf, für eine gesicherte Finanzierung der Schulsozialarbeit in Sachsen-Anhalt durch Landesmittel zu sorgen und Schulsozialarbeit im Landesrecht festzuschreiben. Die Beschlussvorlage wurde einstimmig angenommen, bei Enthaltungen der CDU- und AfD-Fraktionen. Vor wenigen Jahren wurde Schulsozialarbeit erstmals klar im Sozialgesetzbuch festgeschrieben. Näheres bestimmt das Landesrecht, doch eine entsprechende Regelung fehlt in Sachsen-Anhalt bislang. 


Hendrik Lange (Die Linke) fordert das Land auf, für eine langfristige Finanzierung der Schulsozialarbeit zu sorgen @Jonathan von Koseritz

Einer, der das ändern möchte, ist Hendrik Lange, Stadtrat und Landtagsmitglied der Linken. Wir treffen ihn zum Gespräch in seinem Neustädter Wahlbüro Am Gastronom. Auch Lange trägt die Resolution des Stadtrats mit. Finanzieren ließe sich die Schulsozialarbeit seiner Meinung nach durch unbesetzte Stellen für Lehrkräfte. Sich auf eine weitere Förderperiode durch ESF-Mittel der EU zu verlassen, hält Lange für fahrlässig. Denn ESF-Mittel seien projektgebunden und nicht für verstetigte Aufgaben vorgesehen. Und schon jetzt müssen sich Land und Kommunen an der Finanzierung des Programms beteiligen. 60 Prozent der Gelder stammen von der EU, 30 Prozent trägt das Land, 10 Prozent die Kommunen – wobei hinsichtlich der Verteilung der Kosten ein heftiger Streit zwischen Land und Kommunen vorausging.

Laut Lange braucht es ferner eine klare Regelung im Kinder- und Jugendhilfegesetz des Landes, denn nur so ließe sich sicherstellen, dass Schulsozialarbeiter*innen nicht für sachfremde Aufgaben wie Nachhilfe oder Vertretungsunterricht eingesetzt werden. Doch das Land sieht sich nicht zuständig. Die Schulsozialarbeit sei ausreichend rechtlich geregelt und die Reform des Sozialgesetzbuchs verpflichte das Land nicht, einen weiteren Rechtsrahmen zu schaffen. Zuletzt wurde das Kinder- und Jugendhilfegesetz im Oktober reformiert, Schulsozialarbeit kommt dort ausdrücklich nicht vor, obwohl sich die Landesregierung im Koalitionsvertrag darauf verständigt hat, die Schulsozialarbeit in Sachsen-Anhalt zu verstetigen.

Schulsozialarbeit ist Pflicht

Jan Kepert, Professor an der Hochschule Kehl und Experte für Sozialrecht, widerspricht der Auffassung des Landes vehement. Der Bund hat im Sozialgesetzbuch bewusst auf Detailregelungen verzichtet, mit der Erwartung, dass die Länder von ihrem Gesetzesvorbehalt Gebrauch machen. Förderrichtlinien und Verwaltungsvorschriften sind nicht ausreichend und das Auslaufen der Finanzierung wäre ein evidenter Rechtsverstoß. Allerdings kann der Bund die Länder nicht dazu zwingen, eine entsprechende Regelung im Landesrecht vorzunehmen. Jedoch ist Schulsozialarbeit eine Pflichtaufgabe, die die Kommunen gewährleisten müssen. Zwar gibt es kein individuell einklagbares Recht auf Schulsozialarbeit, die Träger der freien Jugendhilfe können jedoch zumindest auf einer ermessensfehlerfreien Entscheidung ihrer Finanzierungsanträge beharren. „Es wäre ein krasser Rechtsverstoß, wenn man den Antrag ablehnen würde, weil kein Geld da ist. Denn es hat Geld, da zu sein”, sagt Kepert.

Metzner ist optimistisch, dass es mit der Finanzierung schon irgendwie weiterläuft und niemand die Schulsozialarbeit ernsthaft aufs Spiel setzt. „So dumm ist keiner. Da würde man sich doch ins eigene Bein schießen.” Insbesondere Polizei und Jugendämter profitieren von der präventiven Arbeit, die Sozialarbeiter*innen an Schulen leisten. Wer sollte wollen, dass die Situation eskaliert?

Will man die Schulsozialarbeit in Sachsen-Anhalt sichern, so müsste sich jetzt was tun, meint Lange. Denn nächstes Jahr stehen Wahlen an und durch die späte Regierungsbildung verschiebt sich der Beschluss des Haushaltes auf 2027. Und darüber hinaus stellt sich die Frage, wer die nächste Regierung stellt. Die AfD würde die Schulsozialarbeit am liebsten abwickeln. AfD-Landtagsabgeordneter Hans-Thomas Tillschneider bezeichnet sie als ein „parasitäres System” – Rhetorik, die an das Vokabular von „Altparteien“ und „Lügenmedien“ anknüpft. Laut Umfragen zur Landtagswahl steht die AfD bei 40 Prozent, sollten mehrere Parteien wie SPD, Grüne, FDP oder BSW an der 5-Prozent-Hürde scheitern, dann wäre eine Alleinregierung der AfD denkbar. Für das Aus der Schulsozialarbeit müsste die AfD nichts tun, es würde ausreichen, die Förderung auslaufen zu lassen. 

Von der Politik wünscht sich Janko indes nicht nur eine langfristige Finanzierung und weitere Stellen, sondern auch einen Abbau von Bürokratie. Einen Großteil ihrer Zeit frisst die Beantragung von Unterstützungsleistungen, mit denen Sportkurse, Klassenfahrten oder Nachhilfe bezahlt werden. Fehlen den Eltern wichtige Dokumente, dann gerät der Prozess ins Stocken und Bescheide werden zu spät ausgestellt. Doch weder die Eltern noch Nachhilfeträger gehen in Vorkasse. Das geht zu Lasten der Bildungschancen der Kinder. Pauschalbeträge je Kind und Schuljahr wären stattdessen angemessen, findet Janko.

Des Weiteren sind Schulsozialarbeiter*innen, deren Stellen über ESF-Mittel finanziert werden, verpflichtet, ihre Tätigkeiten minutiös zu dokumentieren: Mit wie vielen Schüler*innen, Eltern oder Lehrkräften haben sie gesprochen – was ist davon präventiv oder intervenierend? Wie viele Einzelfälle betreuen sie? Doch mit Zahlen allein lässt sich der Erfolg der Arbeit nicht messen, findet Janko – auf die Qualität der Beziehungsarbeit komme es an. Zudem muss sie für die Finanzierung ihrer Stelle zu jeder Förderperiode ein Konzept entwickeln, so wie auch ihr Kollege an der Schule. Das geschieht allerdings getrennt voneinander. Denn der Kollege ist bei einem anderen Träger angestellt. Eine Schule, zwei Konzepte. 

Wenn Janko zum Feierabend zwei oder drei Punkte ihrer To-Do-Liste geschafft hat, kann sie sich glücklich schätzen. Einzige Konstante ist die abschließende Dokumentation ihrer täglichen Arbeit – für den monatlichen Sachbericht, versteht sich.


Schulsozialarbeit auf der Kippe