Hanna Henke ist seit 2023 Pfarrerin der Passendorfer Gemeinde. Was sie zu einem Neustadt-Fan macht und wie Verständigung über verschiedene Generationen, Sprachen und Konfessionen gelingen kann.
Anna-Lena Wenzel: Seit wann arbeitest du hier in der Neustädter Kirche?
Hanna Henke: Seit April 2023. Ich komme aus der Altstadt und kannte die Neustadt so gut wie gar nicht. Ich hatte schon diesen klassischen paternalistischen Blick darauf – Problemviertel und so. Und jetzt finde ich es super hier. Mir ist ganz wichtig, dass Kirche an Orten wie Neustadt aktiv bleibt. Deswegen war es mein Herzenswunsch, hier zu arbeiten.
Wie lange gibt es diese Gemeinde schon?
Die Passendorfer Kirche und das Pfarrhaus wurden in den 1720ern errichtet, das sind beides Barockbauten. Als Neustadt vor 60 Jahren gegründet wurde, war es ein großes Glück, dass die Gebäude erhalten blieben, während der Großteil von Passendorf weggebaggert wurde.Es war ein Riesenakt, dass sich die Gemeinde in der Neustadt überhaupt gründen durfte. Die DDR-Verwaltung hat versucht das zu unterbinden, aber die Menschen haben es trotzdem gemacht. Sie sind von Tür zu Tür gegangen, haben überall geklingelt und auf diese Weise die Gemeinde aufgebaut gegen den Widerstand des Staates.
Wie würdest du die Gemeinde beschreiben?
Wir sind eine liberale Gemeinde. Mir ist zum Beispiel eine genderneutrale Gottesanrede oder eine feministische Theologie wichtig, und das wird hier mitgetragen. Die Gemeinde hatte viele Kontakte ins Ausland, es gibt eine Partnergemeinde in Lateinamerika und den Niederlanden. Es kamen Gäste aus der ganzen Welt, auch schon zu DDR-Zeiten, was ich beeindruckend finde. Aber wir sind schon eine ziemliche Blase in der Neustadt. Das fällt mir besonders auf, wenn es um politische Themen geht. Wir hatten gerade ein Gespräch darüber, dass wir eine ziemlich links-liberale Truppe sind, umgeben von viel AfD.
Knüpfst du bewusst an die Rolle der Kirche in der DDR an, die ja oft ein Schutzraum für marginalisierte Gruppen, Systemkritiker und Dissidenten war?
Schon, weil ich bedaure, dass sich die Kirche aus gesellschaftspolitischen Diskussionen zurückgezogen hat. Mir fehlt die avantgardistische Rolle, die sie einmal hatte. Aber gerade diese Gemeinde hat sich in der DDR-Zeit weit aus dem Fenster gewagt. Der Jugenddiakon Lothar Rochau hat offene Jugendarbeit gemacht. Bei einigen Veranstaltungen waren bis zu 500 Jugendliche auf dem Gelände, unter ihnen ganz viele Punks. Die Kirche war da sehr unter Beobachtung. Das sind Sachen, die im Gemeindegedächtnis eine Rolle spielen. 1983 wurde Lothar Rochau bei einem Umweltspaziergang verhaftet, gemeinsam mit anderen Gemeindemitgliedern. Wenn wir uns heute aus dem Fenster lehnen und etwa Schutzsuchenden vorübergehend Unterschlupf bieten, haben manche Leute Angst, dass uns das wieder in Schwierigkeiten bringt. Es ist eine Abwägungsfrage: Ist man ein offener Begegnungsort oder Schutzraum, beziehungsweise gelingt es, beides miteinander zu verbinden?
Du sprichst öfter von wir, wer ist damit gemeint?
Wir – das ist die Gemeindeleitung mit neun Ehrenamtlichen und mir. Ich habe genauso viel zu sagen, wie die anderen Gemeindeleiter*innen auch. Wir entscheiden demokratisch, das heißt mehrheitlich. Manchmal meine ich mit wir auch die Kerngemeinde, das sind circa 200 Personen, die regelmäßig die Veranstaltungen besuchen. Wir kennen uns untereinander und stehen füreinander ein. Wenn neue Leute kommen, werden sie angesprochen und gefragt, wer sie sind und ob sie was brauchen.
Die Bewohnerschaft von Neustadt ist unter anderem durch zwei Gruppen charakterisiert: ältere Menschen und Zugezogene. Spiegelt sich das auch in der Zusammensetzung der Gemeinde?
Ja, da macht sich der hohe Altersdurchschnitt bemerkbar. Alle drei Monate schafft es von den regelmäßigen Gottesdienstbesucher*innen einer rein körperlich nicht mehr, weiterhin zu kommen. Zwar gibt es neue Leute, aber nicht in dem Maße, wie Leute versterben.
Was findet hier auf dem Gelände alles statt?
Das Gelände wird neben unseren Gemeindeveranstaltungen sehr rege von Schulen, Vereinen und allen möglichen Gruppen genutzt. Es gibt eine Vorschule und eine Band von der Kastanienalleeschule, die hier regelmäßig herkommt. Wir haben neben dem Gemeindesaal noch ein kleines Haus. Das steht für Leute offen, die einen Raum suchen.
Wir sprechen oft darüber, dass in Neustadt Begegnungsorte fehlen, dabei gibt es hier einen!
Ja, ich bekomme oft gesagt, dass die Leute das Gelände wie eine kleine Oase wahrnehmen. Das empfinde ich auch so. Wir haben die „Offene Kirche“ eingeführt, und ich sehe oft Leute, die hier reinkommen, um runterzukommen. Das ist echt schön.
Allerdings braucht es etwas Mut, die Schwelle zu überwinden und das Gelände zu betreten …
Deswegen ist es gut, wenn die Kinder den Ort früh kennenlernen und Kindergartengruppen oder Gruppen von den Schulen hier in der Nachbarschaft uns besuchen.
Seid ihr im Austausch mit anderen Gemeinden?
Ja, wir haben viele Kooperationen mit anderen Gemeinden, die hier ihre Gottesdienste und Veranstaltungen machen. Es gibt auch ein gutes Verhältnis zum Islamischen Kulturcenter. Die kommen her, wir gehen hin, wir beten und machen Veranstaltungen zusammen. Im Glauben an Gott haben wir eine gemeinsame Basis. Daraus leiten sich gewisse Dinge ab: dass man den Feiertag ehrt oder dass die Familie einen gewissen Stellenwert hat, obwohl wir sicherlich Familie ganz anders definieren. Doch die Menschen aus der Moschee haben das Interesse die Gemeinsamkeiten zu suchen, wir haben den Wunsch, den Unterschieden auf den Zahn zu fühlen. Dabei haben wir mit den Menschen aus dem IKC viel gemeinsam: Sie haben studiert, sind sehr engagiert im Beruf – oftmals im sozialen Bereich – und reisen viel. Da sind die Unterschiede manchmal kleiner als zu manchen christlichen Strömungen wie der evangelikalen Gemeinde.
Geht ihr auch bewusst aus dem Gemeindezentrum heraus?
Ja! Wir haben zum Beispiel das Format „Langer Tisch“ gemeinsam mit weiteren Akteuren initiiert. Da stellen wir in verschiedenen WKs, also in den Wohnkomplexen, Tische auf. Es ist ein offenes Begegnungsformat mit Essen und Trinken. Das geht über unser Gemeindeleben hinaus und ist als Reaktion auf die Kommunalwahl im Sommer 2024 entstanden. Die Idee war, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und einen Raum zu schaffen, wo Leute sagen können, was sie stört. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem die Leute merken, sie können miteinander ins Gespräch kommen.
Welche Rolle spielt Kirche als Ort?
Kirche ist als Ort der Spiritualität wichtig, in dem seit Jahrhunderten gebetet wird. Das haben wir stark während der Corona-Pandemie gemerkt. Das hat sich nicht wirklich übertragen lassen. Hier auf dem Gelände spielt sich viel ab, es ist ein interaktiver Ort.
Du bist jetzt seit knapp zwei Jahren in Neustadt, wo viele der älteren Bewohner*innen nostalgisch auf die Anfangszeit blicken. Wie nimmst du das wahr?
Diese Stadt ist mit einer wahnsinnig großen Verheißung gestartet. Das konnte ja nur schief gehen [lacht]. Diese Stadt ist extrem persönlich, weil die Menschen sie mit aufgebaut haben – sie waren Teil der Erzählung, dass Neustadt die Zukunft ist. Es ist für die Leute sehr schwierig vor dem Hintergrund der Wendeerfahrungen, ihr Leben zu deuten. Vom Gefühl her sollte es immer besser werden und das ist dann nicht eingetreten. Wie deutet man diese Situation? Viele haben es als ein Scheitern empfunden.
Hinzu kommt der schlechte Ruf von Neustadt …
Ja, wir haben oft Gespräche mit Leuten, die sagen wie traurig es ist, dass Neustadt von Außen so negativ wahrgenommen wird und die ein großes Interesse daran haben, das Image von Neustadt zu verbessern. Aber es gibt auch das Gefühl, dass die Dinge sehr lange dauern. Zum Beispiel der Taubenbrunnen, das ist ein wichtiges Wahrzeichen für Halle-Neustadt. Der war neun Jahr lang abmontiert! Das ist absurd. Da ist es schwer, das Gefühl beizubehalten, dass man selbst und der Ort, wo man wohnt, wertvoll sind.
Aber ich habe das Gefühl, dass es eine Aufbruchsstimmung gibt und junge Leute die Alten anstecken. Dafür muss man Brücken schlagen und die Älteren ein bisschen heranführen. Für die ist es erstmal fremd in einem arabischen Restaurant Tee zu trinken und Falafel zu essen. Das ist auch eine Frage von Identität. Es gibt kaum noch Restaurants, wo man Hausmannskost und eine Frikadelle essen kann. Es macht die älteren Leute traurig, dass es nicht mehr ihr emotionale Essen gibt, sondern das der Zugezogenen. Ich würde mir wünschen, dass es etwas gemischter wäre.
Was ist dein Gefühl für die Zukunft?
Ich glaube, dass Neustadt wieder eine Vorreiterrolle einnehmen kann. Ich denke oft, man könnte in Neustadt ausprobieren und vorleben wie ein Zusammenleben unter diesen schwierigen Ausgangsbedingungen aussehen kann. Das wären ein positives Selbstverständnis und eine tolle Motivation. Es könnte jetzt ein guter Zeitpunkt sein, diese Dinge anzustoßen und zu vertiefen. Es ist mir selber ein Anliegen. Wir ziehen bald in dieses Haus. Ich freu mich, dass meine Kinder in Neustadt aufwachsen können, ich finde das einen schönen Ort, um zu leben. Ich bin Neustadt-Fan und nicht die einzige!
Alle Interviews gibt es hier:
unser-haneu.de/unterhaltungsanfrage
Die Ergebnisse der Recherche von Anna-Lena Wenzel zu Kommunikationswegen in Halle-Neustadt werden im August online im Südpark-Magazin veröffentlicht: