„Das ist urban ja alles schon sehr durchdacht gewesen“

Tom Zimmermann (Jahrgang 1967) hatte mehr als 20 Jahre in Neustadt verbracht. Seit 1996 wohnt er in Potsdam, wo er heute als Restaurator arbeitet. Ein Gespräch über das Aufwachsen in Ha-Neu sowie den Chancen und Entbehrungen der Wende.  

Anna-Lena Wenzel: Bist du in Halle-Neustadt aufgewachsen?  

Tom Zimmermann: Wir sind 1968 nach Neustadt gezogen, als die Hochstraße nach Neustadt gebaut und unser Haus abgerissen wurde. Die Leute waren froh, dass sie in Neubauten auf der grünen Wiese wohnen konnten – es war warm, das Wasser kam aus der Leitung und tropfte nicht durchs Dach und die Miete war lächerlich. Zu DDR-Zeiten haben in der Innenstadt nur Rentner und Verrückte gewohnt. In Halle-Neustadt gab es kurze Wege, man hatte überall eine gute Versorgung: Zahnarzt, Ärzte, das war alles im Umfeld. Das ist urban ja alles schon sehr durchdacht gewesen. Viele Leute fanden es gut, für die Organisation ihres alltäglichen Lebens in Neustadt zu wohnen. Aber es waren schon auch Zwangsgemeinschaften. 

Wo habt ihr gewohnt? 

In Neustadt haben wir im 2. WK Block 2 beim Südpark gewohnt. Zu der Zeit wurde noch viel gebaut, es gab viele Baugruben und auch große Erdhügel auf denen man rum klettern konnte, das war wie ein großer Abenteuerspielplatz. Für Kinder war das ganz cool. Auch weil die Wege sehr kurz waren. Der Kindergarten war direkt gegenüber, die Schule war noch näher dran. Nach der Schule konnte man in den Hof. Da hat man erst in der Kiste gebuddelt und sich später mit den Kumpels auf ´ner Bank getroffen. Es gab auch einen Jugendtreff, zwei, drei Höfe weiter. Was für mich prägend war, war die Station junger Naturforscher und Techniker, die war aber weiter im Westen, beim ersten Wohnkomplex. Das war ein Gebäude, wie ein Kindergarten mit zwei Etagen, da wurden alle möglichen Kurse angeboten. Ich habe da über mehrere Jahre zwei Kurse belegt: Mittwochs war Keramikkurs. Ein anderer Kurs nannte sich Formgestaltung, da konnte man auch emaillieren. In der Schule wurde ziemlich gezielt Berufslenkung gemacht, Berufsberatung hieß das. Ab der 5. oder 6. Klasse wurden Anfang des Schuljahres alle gefragt, was er oder sie werden will. Wer keine Idee hatte, war potentieller Kandidat, in die Armee oder nach Leuna-Buna gesteckt zu werden. Die brauchten ja Unmengen von Leuten. Neustadt ist ja als Chemiearbeiterstadt gebaut worden.

Haben deine Eltern auch in der Chemie gearbeitet?

Meine Mutter war Trainerin im Leistungssport im Turnen. Und mein Vater war Vermesser und Kartograph, der hat in einem Planungsbüro gearbeitet in der Stadt. Nach der Wende ist meine Mutter sofort arbeitslos geworden, weil im Leistungssport ja alles gekürzt wurde. Wie überall in diesem Land wurden die westdeutschen Strukturen hier einmal übergestülpt und was links und rechts rausguckte wurde weggeschnitten. Sie hat dann zwei, drei Jahre ABM-Maßnahmen gemacht. Mein Vater hat sich 1991 mit einem Vermessungsbüro selbstständig gemacht. 1995 haben die sich ein kleines Reihenhaus in Langenbogen gekauft und sind rausgezogen. Da haben sie 28 Jahre gelebt und sind letztes Jahr nach Potsdam gezogen. Mein Vater hat sich zu DDR-Zeiten immer eingebracht und engagiert, die haben zum Beispiel eine Rohstoffsammlung gemacht und haben Altpapier und so gesammelt, und von dem Geld haben sie Sachen für die Volkssolidarität organisiert. Der war da streckenweise mit eingebunden. Es gab auch Hauskollektive, die waren zum Teil verordnet und in Teilen mit Leben erfüllt. 

Ich kann mir vorstellen, dass das Verhältnis zum Staat sehr stark davon geprägt war, ob die Eltern Teil davon waren oder von ihm gegängelt worden.

Bei uns war das kein Thema. Ich kann mich erinnern, da war ich vielleicht so 12, dass zwei, drei Mal Leute geklingelt haben und vor der Tür standen und irgendwas über Nachbarn aus dem Haus wissen wollten, das war dann wahrscheinlich die Stasi. Wenn du in der Diktatur aufwächst, bist du das ja gewöhnt, da denkt man sich nicht viel dabei. Es gab diese Institution des Abschnittsbevollmächtigten, der als Polizist sein Quartier hatte und für fünf Blöcke oder so verantwortlich war. Der hat immer ein bisschen auf dich oder auf alle geguckt. 

Klingt nach einer misstrauischen Grundatmosphäre. 

Ja, klar, das war allen bewusst, dass ein gewisses Maß an Überwachung in einer Diktatur dazugehört. Man hat sich schon überlegt, wem man was erzählt, auch schon in der Schule.

Und gleichzeitig hat man die öffentlichen Angebote genutzt. 

Ja, das ist nicht unbedingt ein Widerspruch. Es ging in diesem Land alles von diesen öffentlichen Angeboten aus, vor allem von den Betrieben. Das hatte auch einen aufklärerischen Ansatz, man wollte die Leute steuern und wissen, womit sie sich beschäftigen und darauf Einfluss nehmen. In Leuna und Buna war das eine Rundumvollversorgung, da gab es riesige Clubhäuser. Da wurde Unmengen an Kultur und all diese Dinge angeboten. Das ist auch der Grund, weshalb der Kahlschlag nach der Wende hier so reingehauen hat: Für viele Leute war nicht nur die Arbeit weg, sondern auch alles andere – die Urlaubsmöglichkeiten, die Arbeitskolleg*innen, die Freizeitangebote, alles. 

Wie war die Stimmung nach der Wende?

Man muss sich vor Augen halten wie allumfassend dieser Wechsel war. Alles war anders: Steuern, Krankenkasse, Versicherungen, die Art wie man einen Job findet, wie man bezahlt wird. Das kannten die Leute alles nicht. Das war ein krasser Bruch. Aber meine Frau und ich, wir sagen immer, für uns ist die Wende das Glück unseres Lebens gewesen. Wir waren Anfang 20 und noch jung genug, um das alles nutzen zu können. Ich habe das nicht als Verlust erlebt. 

Wie ist dein Lebensweg weitergegangen? 

Ich hatte nach der 10. Klasse eine Lehre als Stuckateur gemacht und bin danach zur Armee gegangen. 1988/89 habe ich in der Altstadt am Markt ein Haus instand besetzt und saniert. Da bin ich im Frühjahr 1989 eingezogen und hab dort bis 1995 gewohnt. Wir haben in der DDR-Zeit mehrere Häuser gerettet, die eigentlich abgerissen werden sollten. 1995 sind meine Frau und ich noch mal für ein gutes Jahr zurück nach Halle-Neustadt in die Wohnung meiner Eltern gezogen.

Wie war das Zurückzukommen? 

Eigentlich war das cool. Wir haben zu zweit in einer Drei-Raumwohnung gewohnt, hatten ein paar alte Möbel und es ein bisschen alternativer eingerichtet. Die Wohnungen haben ja schon eine Qualität, wir hatten einen großen blühenden japanischen Kirschbaum vorm Fenster! Das Grün war ja schon zwanzig Jahre alt. Von dort sind wir dann 1996 nach Potsdam gezogen, wo ich noch ein zweites Mal studiert habe. Wir waren dann auch ein bisschen mit Halle durch. 

Wenn man sich die Filme von Thomas Heise über Neustadt in den 1990er Jahren anschaut, wirkt das recht trist. Wie erinnerst du das? 

Wir haben das nicht so empfunden. Wir haben die Wende wie eine Gelegenheit angesehen, man konnte auf einmal in die Welt gehen – ich konnte mich selbstständig machen! Das hätte ich niemals machen können. 

War der Leerstand schon spürbar? 

Ja. Parallel dazu setzte diese Entmischung ein. Früher hat der Müllfahrer neben dem Mathematikprofessor gewohnt, jetzt zogen die, die es sich leisten konnten, weg. 

Du hast mit der Instandsetzung eines Hauses die Erfahrung gemacht, dass man sich erfolgreich einbringen und etwas gestalten kann, aber ich glaube, vielen geht diese Erfahrung ab. Ich finde die Frage der Teilhabe an der Gesellschaft einen wichtigen Aspekt und denke, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Entscheidung die AfD – also eine Dagegen-Partei – zu wählen und dem Gefühl oder der Erfahrung nicht teilzuhaben. 

Ja, ich glaube, das hat was mit der Erfahrung von Selbstermächtigung zu tun. Hat man es geschafft, nach der Wende das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und selber einen Weg zu definieren oder ist man eher in einer passiven Haltung verharrt? Anderen fällt es heute schwerer, Chancen zu sehen und auch teilzuhaben. Ein Problem ist, dass Eigeninitiative in der DDR nicht gewollt war. Wenn, dann nur unter ganz engen Vorzeichen. Das wurde immer alles gesteuert; wenn jemand eigene Ideen hatte, wurde das schnell kritisch beobachtet. Die Sichtweise, die heute viele Ostdeutsche auf den Staat haben, ist paradox: Einerseits wollen sie ihre Freiheit, wollen Wohlstand und Reisen, andererseits haben viele die Erwartung an den Staat als Vollversorger. Und wenn was nicht läuft, dann ist gleich das ganze System scheiße. 

Das ist total polarisiert. Und es ist natürlich einfacher, die Verantwortung abzugeben – nicht nur im Osten. Sagt dir der Begriff Baseballschlägerjahre was? Ich kenne Leute, die nach 1990 aus Neustadt weggezogen sind, weil es ihnen zu gefährlich war. 

Ich war bei der Wende 22 Jahre alt, da waren wir mit unserem Erwachsenenwerden schon einigermaßen durch. Ich glaube, das betraf eher Leute, die gerade in die Pubertät und das Erwachsenenwerden reingekommen sind. Da ist ja das ganze familiäre Umfeld oft zerbrochen. Die Eltern waren damit beschäftigt, sich irgendwie zurechtzufinden und konnten ihren Kindern kaum Orientierung bieten.  

Hast du bzw. haben deine Eltern noch Kontakt nach Ha-Neu? 

Wir machen noch alle fünf Jahre Klassentreffen. Ein Drittel bis die Hälfte lebt noch in Halle oder im Umfeld, es leben auch noch welche in Neustadt, zum Teil sogar in den Häusern, in denen sie aufgewachsen sind. Eigentlich machen die alle einen ganz fidelen Eindruck und sind relativ optimistisch. Sie haben die Verwerfungen der 1990er Jahre ganz gut überstanden.  

Ich habe letztens gelesen, dass die Entmischung dieser Milieus in vielen ostdeutschen Großstädten heute stärker ist als im Westen. Ha-Neu hat sich schon komplett verändert. Es gibt Orte, da wird kaum noch deutsch gesprochen, und die Wohnquartiere haben einen ganz schönen Makel bekommen, mal abgesehen davon, dass da nur noch 40.000 Leute wohnen, wo früher mal 100.000 gewohnt haben. 

Mein Vater ist irgendwann noch mal bei unserer Wohnung vorbeigegangen und hat geklingelt, da wohnte ein syrischer Physikprofessor, der am Max Planck Institut arbeitet, in der Wohnung. 

Alle Interviews gibt es online unter:
unser-haneu.de/unterhaltungsanfrage

Die Ergebnisse der Recherche von Anna-Lena Wenzel zu Kommunikationswegen in Halle-Neustadt werden im August online im Südpark-Magazin veröffentlicht:

amsüdpark.de


„Das ist urban ja alles schon sehr durchdacht gewesen“